Ihr Lieben,
unser Freund Alfousane Kebbe, genannt Mango, ist tot. Er starb letzte Woche am Montag im Krankenhaus Neukölln an Tuberkulose. Dort war er am Samstag eingeliefert worden, weil die Schwäche und das Unwohlsein, die er die ganzen letzten Wochen verspürt hatte, sich zu unsäglichen Schmerzen ausgewachsen hatten. Da begannen seine Leber und seine Nieren zu versagen, und das muss so fürchterlich gewesen sein, dass selbst die ständigen Beschwerden in seiner Lunge, in die die Bakterien sich stetig hineinfrassen, in den Hintergrund traten.
Von all dem wusste Mango nichts. Er war in den Jahren die wir ihn kannten, immer mal wieder krank gewesen. Er war aber nie auf die Idee gekommen, das könne etwas Ernstes sein. Mango hatte sich letzten Monat bei einem Arzt vorgestellt, der aber offensichtlich nicht weiter gedacht hatte, als er in seiner Lunge nichts Auffälliges hörte. In den letzten Tagen seines Lebens nahm die Krankheit dann rasant ihren Lauf. Mango schwand unter ihr buchstäblich dahin. Ich verstehe, warum man sie früher Schwindsucht nannte.
Jetzt liegt sein Körper in der Pathologie des Krankenhauses Neukölln und wartet auf die Überführung in seine geliebte Heimat. Die hatte er vor vielen Jahren verlassen, weil er in seinem kleinen Dorf in Gambia keine Zukunft sah für seine Tochter und auch nicht für sich selbst. Seiner Tochter eine Ausbildung zu ermöglichen war Mangos größtes Ziel. Bis zu seinem Tod hat er jeden Monat die nötigen Geldmittel dafür auftreiben können. Noch im Sommer schmiedete er Pläne, sie zum Studieren nach Deutschland zu holen.
Seine größte Hoffnung war, eines Tages seine Papiere zu erhalten und in Deutschland regulär arbeiten zu können. Dabei wäre er ohne Zweifel sehr erfolgreich geworden. Mango trat im Training häufig etwas unsicher auf, bisweilen sogar ein bisschen ungelenk. Das lag aber nur daran, dass er sprachlich oft nicht ganz verstand, was wir von ihm wollten. Wenn man mit ihm in Ruhe redete, wurde sehr schnell klar, was für eine Persönlichkeit da vor einem sass. Dann wurde man von seiner warmen Kraft berührt und eingenommen von seiner Klarheit und bodenständigen Klugheit. Er könnte auch über sich selber lachen und hatte echte Wärme für seine Mitmenschen.
Mango hatte auch einen ziemlich durchsetzungsstarken Willen. Er wäre mit weniger Hürden im Leben ein großartiger, erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Er war auch ein begnadeter Schreiner. Wenn er eine Säge in die Hand bekam, wuchs er scheinbar um 10 Zentimeter und arbeitete mit größter Konzentration und Geschwindigkeit.
Die Hürden in seinem Leben waren enorm. Mango konnte nie eine Schule besuchen und nicht lesen und nicht schreiben. Als Geduldeter wurde er in Deutschland systematisch vom Staat aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Man wollte ihn eben los werden.
Das war ziemlich doof, denn nicht nur war Mango ungemein begabt, sondern gerade wenn es um Geschäft und Handwerk ging, akkurat wie ein Preusse. Eine nicht perfekt parallele Parkettlinie liess er einfach nicht stehen, eine ausstehende Schuld genauso wenig.
Mangos Offenheit für Neues kann man sich gar nicht groß genug vorstellen. Als Hiesiger kann man sich kaum ausmalen, welche Hürden das Bewusstsein von ganz unten auch in der Gambianischen Gesellschaft zu kommen, die mangelnden Sprachkenntnisse, die kulturelle Unkenntnis und die organisierte Ablehnung durch Deutschland für ihn aufbauten. Ich habe fast zwei Monate gebraucht, um ihn davon zu überzeugen, dass es wirklich ok war, zum Karate Training mitzukommen. Er war der einzige aus seiner Gruppe, der den Schritt wagte. Es war ihm sichtlich peinlich.
Mango war immer sehr zurückhaltend darin, um etwas zu bitten. Teils war das Furcht vor Enttäuschung. Er war ungeheuer aufgeregt, wenn es schien, wir könnten ihm einen Bauarbeitsjob verschaffen und schmerzlich betrübt, wenn es wieder nicht geklappt hatte.
Teils war es sein innewohnender Stolz. Er wusste immer zu signalisieren, dass er alles unter Kontrolle hatte und keine Hilfe brauchte, selbst wenn das offensichtlicher Quatsch war. Sein Mitbewohner berichtet, dass er noch fünf Tage vor seinem Tod jede Einlieferung ins Krankenhaus ablehnte. Er wollte selber damit fertig werden.
Diese Sturheit zu überwinden war eine große Hürde. Nicht nur in diesem letzen Akt, sondern auch schon bei vielen kleineren Anlässen in den Jahren, wo wir ihn kannten. Vielleicht hat sie ihn am Ende das Leben gekostet.
Mir erscheint sein Ableben wie eine klassische Tragödie, in der tausend kleine Faktoren zusammenkommen, von denen jeder vielleicht unbedeutend sein mag, die aber am Schluß den Helden zu Fall bringen. Weil sie die guten Sinne der Menschen betäuben. Weil sie verhindern, dass man richtig mit einander kommuniziert. Weil sie uns davon abhalten, das Einfache und Richtige zu tun.
Mein Freund, ich werde Dich vermissen. Ich werde nie wieder nachts durch den Görli laufen und nach Dir Ausschau halten, mal freudig, mit Dir zu reden, mal schweigsam und insgeheim hoffend, dass Du mich nicht siehst. Wir werden nicht mehr auf der Parkbank sitzen und über Autopreise in Gambia philosophieren. Wir werden nicht mehr die Freude teilen, wenn Du im Karate wirklich etwas verstanden hast. Du wirst nicht mehr still mit gedrehtem Kopf lachen und Deine Wärme verbreiten, wie nur Du es konntest. Der Marabu aus Deinem Dorf wird nicht für unsere Gruppe beten.
Ich bitte Dich um Verzeihung. Für mein Land, dass Deinen Reichtum nicht haben wollte und Dich am Ende sterben liess. Für meine eigene Dummheit, auf Dich gehört zu haben, wenn Du mal wieder sagtest, alles werde gerade besser, so wie als wir vor ein paar Wochen das letzte Mal sprachen. Und ich bitte Dich um Verzeihung für die beiden roten Pfeile, die ganz oben in der Anrufliste stehen, wenn man Deinen Namen aufschlägt in meinem Telefon.
Ich weiss auch, dass ich nicht wissen konnte, wie schlimm es um Dich stand. Ich weiss auch, dass unter den beiden roten nach innen gerichteten Pfeilen 15 grüne, nach außen gerichtete stehen, jeder für einen erfolglosen Versuch, Dich zu erreichen in den Wochen zuvor. Und doch markieren die beiden Pfeile meine Schande: Als Du mich brauchtest, war ich nicht für Dich da. Als Du soweit warst, nach mir zu rufen, habe ich nicht geantwortet. Als Du dem Tode nahe warst, dachte ich, es wird schon nicht so dringlich sein und ich rufe schon bald zurück.
Verzeih mir mein Freund.
Du warst mir ein echter.
Malte