Tun, Sein und Nichtstun – vom geistigen Loslassen im Karate
Menschliche Präsenz unterliegt einem scheinbaren Paradox, denn sie steht ihrem eigenen Potential im Weg. Jede konkrete Ausformung menschlicher Existenz, ganz gleich ob geistig oder körperlich, ob Tun oder Sein, verdichtet unseren Lebensraum. Verdichtung verengt aber notwendig und presst uns zusammen. Darum erstarrt jedes substantielle Dasein und trägt Ausdörrung und Unfruchtbarkeit in sich. Den Zwiespalt, dass jedes fassbare Sein oder Tun in sich Verdunkelung und Leblosigkeit trägt und somit unausweichlich auf uns lasten muss, kann man nicht aufheben. Er ist eine Grundkonstante menschlichen Lebens.
Was man durch Training aber ändern kann, ist das Ausmass von Verzerrung und Verlust, das eine Konkretisierung des eigenen Potentials mit sich bringt. Je reiner die Konkretisierung, desto weniger nimmt sie von unserer Existenz in Anspruch. Je weniger Verwirrung und Ausschuß in ihr, desto weniger wirft sie Schatten und desto weniger bindet sie Leben und Fruchtbarkeit.
Zulassen, innere Wahrheit und Wandlung
Unser Potential sich ohne unnötigen Verlust formen zu lassen, verlangt uns grosse, geistige Anstrengung ab. Um ein konkret gewordenes Sein lebendig zu lassen, müssen wir im Tun so wenig wie möglich Potential auslöschen und es so weit wie möglich spontan wirken lassen.
Jenseits unseres kontrollierten Zugriffs wirken lassen, widerstrebt aber auf den ersten Blick dem Begriff des Tuns. Es läuft auch genau zuwider tief in uns verwurzelten Instinkten, eben möglichst Herr von allem zu sein und es kontrollieren zu wollen. Wenn wir diesem Instinkt nachgeben, verwenden wir aber zum einen viel Energie auf die innere Kontrolle und zum anderen schliessen wir intuitive Wirkungen höherer Ordnung, die unser Potential bereithält, deren Eintreten wir aber eben nicht vorhersagen oder mit bewusster Anstrengung identifizieren können, aus.
Die innere Ordnung zum Beispiel, in der der Körper in einer Karatetechnik maximal unsere Energie durchgehen und wirken lässt, nimmt er eben am besten selber an. Wenn wir sie lassen können, lassen sich alle Fasern und Körperteile genau auf dem Platz nieder, auf den sie gehören, um sich und der Bewegung nicht im Wege zu stehen und diese, aber auch nur diese zu befördern.
Leer werden und innere Wurzeln
Das heisst aber nicht dass wir gar nichts tun. Dies schliesst sich zum einen schon per Definition aus. Wo nichts ist, ist jedenfalls solange man noch kein Buddha ist, auch nichts. Körper und Willenskraft müssen immer einen Rahmen für die Bewegung vorgeben.
Je kleiner und ruhiger dieser aber ist, umso besser. Je weniger an uns zerrt und drückt, in geistiger wie in körperlicher Hinsicht, desto leichter fällt es der inneren Belebtheit zu wirken. Wenn wir ihr einen Raum bieten, der frei ist von Verzerrung und Streben, nimmt sie ihren richtigen Platz ein und führt uns weit über das hinaus, was wir mit bewusster Gewalt erreichen oder uns gar vorstellen könnten.
Der eigentliche Übungsinhalt des Karate ist also, einen inneren Raum zu schaffen, in dem die unkontrollierte, körperliche und geistige Intuition sich ausrichten kann auf unser anvisiertes Tun, welches sie dann von selbst ausgestaltet. Diese Art der Beruhigung tritt aber nur ein, wenn wir Unruhe und Verzerrung als Ausdruck erstarrten Seins ansehen und bereit sind, sie vergehen lassen. Man lässt einen Teil seines bekannten, starr gewordenen Seins los, ohne dafür etwas zu bekommen. Im Loslassen akzeptiert man innere Leere. Nur die Verbindung zu den Wurzeln bleibt bestehen. Durch sie kann das Lebenspotential ungehindert strömen und uns in der richtigen Weise beleben.
Die geistige Voraussetzung des Karate ist also etwas paradox. Man visiert etwas an, wie z.B. eine Technik ausführen, aber nur mit einem kleinen Teil des Seins. Man verabschiedet sich zugleich von großen Teilen des eigenen Seins, um an dessen Stelle von selbst sich ordnende innere Hilfe treten zu lassen. Das Nebeneinander von ordnendem Rahmen und innerer Entleerung ist zunächst verwirrend. Je weniger äusseren Rahmen wir brauchen, also je weniger Aktivitätsentfaltung, desto weiter kann das Potential Wirkung entfalten. Im Idealfall kann man Potential ohne äussere Handlung wirken lassen.
Körperlichkeit und Leere
In der Körperlichkeit des Karate macht sich innere Unruhe und Spannung, die uns zerstreut und das innere Potential in die Irre leitet, leicht sichtbar. Sie drückt uns, drängt uns aus dem Zentrum und verformt uns. Mit ein wenig Aufmerksamkeit lassen Fehlstellungen und Blockaden sich leicht identifizieren und äusserlich korrigieren. Das allein macht aber noch kein Karate aus. Erst wenn wir die Verzerrung als unnötige Willensäusserung deuten und von ihr als solche Abschied nehmen und und bereit sind, innere Leere ihren Platz einnehmen zu lassen, geben wir dem Inneren Raum, an ihre Stellung eine sich selbst ordnende Form zu setzen, die an der Technik mitwirkt.
Leere annehmen und das Potential wirken lassen funktioniert nur, wenn es ohne Berechnung geschieht. Die Vollständigkeit des Gehen Lassens und damit die Wirksamkeit der inneren Entleerung, wird sofort eingeschränkt, wenn wir im Hinterkopf mit ihr rechnen und auf eine höhere Leistung hoffen.
Karate und innere Wahrheit
Unser ungestört wirkendes Potential ist der reinste Ausdruck unserer Selbst. Darum ist innere Wahrheit die stärkste Kraft in uns und Karate richtig verstanden ein Weg zu sich selbst.